Tanz&Toccata

CD "Tanz&Toccata. Norddeutsche Orgelmusik des 17. Jahrhunderts".
Martin Sander an der Schweimb-John-Orgel von 1696/1707 in Salzgitter-Ringelheim

Andrew Benson-Wilson in Early Music Review - 27 - Feb. 1997

An exciting programme of organ music by Buxtehude, Bruhns, Lübeck, Bach and the earlier composers Michael Praetorius and Scheidt, played with stylistic panache and informed musicality by the Berlin-born organist, Martin Sander. A winner in the late 80s of many of the major organ competitions, Sander's playing ranges from strong to sensitive with equal skill and musical personality.
For the last few years of his life, Praetorius was Prior of the Benedictine Monastery of which this church formed a part: it is therefore particularly apt to include some Terpsichore dances – a reminder that Praetorius noted the organ amongst the instruments suitable for them.
Strongly recommended for the music, organ and playing.

Gerhard Hölzle in Alte Musik Aktuell Nov. 1996

Vorliegender Einspielung liegt folgender Gedanke zugrunde: Im gleichen Maße wie die norddeutsche Orgelmusik des 17. Jahrhunderts von rhetorischen Prinzipien abhängig ist, geht sie eine Synthese ein mit Elementen der von höfischen Tänzen inspirierten Ensemble-Musik. Somit sind Dietrich Buxtehude, sein Schüler Nicolaus Bruhns und auch Vincent Lübeck als hervorragende Vollender des "Stylus phantasticus" in dieser Aufnahme ebenso vertreten wie der junge J.S. Bach, der in seiner selten zu hörenden Toccata E-Dur noch sehr stark von diesem Stil beeinflußt war. Dem gegenübergestellt sind – wie erwähnt – Kompositionen, die für den typisch deutschen Tanz des 16./17. Jahrhunderts stehen: von Samuel Scheidt die Tanzvariationen über das niederländische Liedchen "Ach, du feiner Reiter" und von Michael Praetorius sechs Tänze aus der bekannten Sammlung "Terpsichore" (1612), die für die Einspielung, der damals üblichen Intabulierungspraxis (Musik für mehrere Instrumente wird auf ein Tasteninstrument übertragen, in Tabulatur gesetzt) gemäß, eingerichtet, durchaus einmal eine Neuigkeit im ansonsten allzu abgegrasten Repertoire darstellen; zumal M. Praetorius dieses Vorhaben legitimiert, wenn er im Vorwort o.g. Sammlung schreibt: "Ob es nun zwar denen / die es ungewohnet und ungeübt seyn / etwas frembd und schwehr fürkompt / so gibt es jedoch auff Orgeln und allen andern Instrumenten einen frischern und fast anmütigern Resonants."
Man kann diese CD von Martin Sander durch und durch als gelungen bezeichnen, ist es doch heutzutage wirklich zu einem schier unmöglichen Unterfangen geworden, auf dem übersättigten Markt von Orgeleinspielungen jeglicher Couleur eigene Akzente zu setzen. Sander, der mit einigen namhaften Preisen aufwarten kann, versteht es gut, diese spannende Musik mit einem sehr geeigneten Instrument zum Klingen zu bringen. Die von Andreas Schweimb und Johann J. John 1696 bzw. 1707 erbaute Orgel der ehem. Klosterkirche St. Abdon und Sennen in Ringelheim stellt sicherlich ein großartiges Denkmal der Orgelbaukunst um 1700 dar.
Alles in allem also eine hervorragende Produktion, der man überdies einen gewissen Repertoirewert ausstellen kann.

Markus Zimmermann im Bayerischen Rundfunk: Phonokritik vom 29.6.1996

Die uns heute allzu selbstverständliche Trennung von weltlicher und giestlicher, tänzerischer und akademischer Musik kannten Musiker früherer Jahrhunderte nicht in diesem Maß. Neben den Kompositionen für Studienzwecke und Liturgie war es durchaus üblich, daß sich Komponisten auch mit modischer Unterhaltungsmusik ihrer Zeit aktiv auseinandersetzten; in vielen Sammelhandschriften des 16. oder 17. Jahrhunderts folgen unmittelbar auf Kirchenliedsätze fetzige Tanzstücke oder Gesänge, deren Inhalt alles andere als sakral ist. Es ist daher logisch, daß Elemente etwa der höfischen Musikpraxis in die Liturgische Musik übernommen wurden.
Dieses Miteinander festlicher Musik zu unterschiedlichen Anlässen greift Martin Sander in seiner geistreich zusammengestellten Neueinspielung unter dem Titel Tanz & Toccata auf, indem er einer Reihe nord- und mitteldeutscher Orgeltokkaten Tanzsätze und Liedvariationen gegenüberstellt. Die festliche Eingangsmusik [Anm.: Tonbeispiel bei der Rundfunk-Ausstrahlung] sowie die nachfolgenden Sätze sind der 1612 von Michael Praetorius veröffentlichten Sammlung Terpsichore entnommen: "Darinnen Allerley Frantzösische Däntze und Lieder (...) Wie dieselbige von den Frantzösischen Dantzmeistern in Frankreich gespielet / unnd vor Fürstlichen Taffeln / auch sonsten in Convivijs zur recreation und ergötzung gantz wohl gebraucht werden können". Die Orgelbearbeitung der von Praetorius ohne feste Besetzungsangabe skizzierten Stücke wurde durch eine Interpretation des russischen Organisten Juri Krjatschko angeregt. Sie folgt der ebenfalls seit der Renaissance gängigen Praxis, Ensemblekompositionen auf Tasteninstrumente zu übertragen.
In wohltuender Balance aus Dramatik und Gelassenheit präsentiert Martin Sander nicht nur höchste Orgelkunst in selten anregender Interpretation, sondern auch Farbenreichtum und Klangfülle einer norddeutschen Barockorgel. Das Instrument in der Klosterkirche Salzgitter-Ringelheim entstand in mehreren Bauabschnitten um 1700; einige Irrtümer im Zusammenhang mit Umbauten konnten in den letzten Jahren rückgängig gemacht werden. Der bis heute beeindruckende reine Klang wurde schon 1738 gerühmt, insbesondere die "vortrefflich angerichtete" Vox humana. Solche Zungenregister eignen sich besonders für die Wiedergabe der Praetorius-Tänze. Die Einbeziehung dieses nicht nur durch seine Musik, sondern vor allem durch sein enzyklopädisches Schaffen bekannten Komponisten ist auch deshalb besonders passend, weil sich Michael Praetorius öfters in Ringelheim aufgehalten haben soll.

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